Liebe Mitglieder,
heute findet unsere traditionelle Mitgliederversammlung statt, aber nicht nur, denn heute feiert England und das Commonwealth ein noch viel wichtigeres Fest: die Krönung von King Charles und Queen Camilla. Es handelt sich um ein Ereignis, das völlig aus der Zeit gefallen ist, so sagen jedenfalls die Skeptiker und Zyniker – und vielleicht haben sie ja auch Recht. Als Realisten wissen sie nämlich, dass eine Krönung nach altem Muster in keiner Weise in unsere postmoderne Welt passt. Wir haben weiss Gott andere Probleme. Viele Menschen in Grossbritannien leiden unter Armut, viele unter bitterer Armut. Was also soll dieser ganze Pomp?
Kommt noch dazu, dass der neue König kein junger, hübscher Prinz ist, wie der, den wir aus dem Märchen kennen, und er wird auch keine neue Weltordnung schaffen, wie der junge König im Märchen sie repräsentiert, sondern er ist ein mehrfacher Grossvater mit schütterem Haar und kaum politischem Einfluss. Und seine Königin ist, den Jahren nach, auch eher eine alte Königin. Was ist ihm, was ist diesen beiden, nicht schon alles Übles nachgesagt worden!? Nicht nur in der Klatschpresse, nein, auch in den seriöseren Medien; bei der Bevölkerung war er lange Zeit nicht gerade beliebt. Die Royal Family hat längst ihre Kratzer abbekommen. Wenigstens einige ihrer Mitglieder haben nun auch einen Schatten. Das macht sie zwar etwas menschlicher, dafür will es uns nicht mehr recht gelingen, sämtliche royalen Eigenschaften auf sie zu projizieren.
Trotz allem kann uns die Tradition der Krönung nach einem über 1000-jährigen Muster faszinieren. Ich habe mir aus gegebenem Anlass ein paar Gedanken gemacht über die überzeitlichen Elemente der Zeremonie. Die will ich hier vortragen. Ich will mich nicht politisch und sozial-kritisch über die Monarchie äussern, aber ich erlaube mir, über das Gefühl, von dem wir bei der Krönung unter Umständen berührt sind, und über die noch immer gültige Symbolik etwas zu sagen. Ich vermute, es ist das Archetypische, das unser Gefühl ganz unmittelbar anspricht, auch wenn wir dem vorgeführten Prunk gegenüber kritisch sind. Ich greife also ein paar wenige Symbole heraus, die bei der heutigen Krönung von Charles und Camilla eine wichtige Rolle spielen.
Die Hauptakteure im alchemistischen Prozess sind immer wieder König und Königin; und die Hochzeit der beiden können wir, psychologisch, als das zunächst unbekannte Ziel eines mit Sinn erfüllten Bewusstwerdungsprozesses verstehen. Die Bilder der heutigen Krönung erinnern tatsächlich an die Hochzeit, an das mysterium coniunctionis; dieses ist symbolischer Ausdruck dafür, dass im Laufe des Werkes, des Opus, und oftmals erst nach komplizierten Verstrickungen, nach langer Leidenszeit und durch viel Aushalten schliesslich das zusammenkommt, was zusammengehört.
Ein solches Paar stellen Charles und Camilla tatsächlich dar. Aus konventionellen Gründen musste Charles damals als junger Kronprinz eine andere zur Gemahlin nehmen. Er entschied sich vernünftig und passte sich an die royalen Verpflichtungen an. Er heiratete zuerst die ausserordentlich hübsche Diana, Inbegriff einer Anima-Frau. Sie wurde von Millionen geliebt, vielleicht aber nicht so sehr von ihrem Bräutigam. Anlässlich der Verlobung antwortete dieser nämlich einem Journalisten auf die Frage, ob er denn verliebt sei, mit: «… whatever being in love means.» Ausweichend fügte er hinzu, dies sei halt eine Frage der Interpretation. Wie wir später erfuhren, liebte er damals schon eine andere, eben seine heutige Königin. Die von den Millionen bewunderte Diana starb bereits in ihren jungen Jahren einen tragischen Tod. Was muss in Camilla damals vorgegangen sein, als sie, vielleicht zu Hause am Fernseher, die herzzerreissende Trauerfeier für Diana mitverfolgte? Wir werden es nie wissen, es ist ihr Geheimnis. Jedenfalls haben beide mit ihrer Liebe einen ganz persönlichen Weg auf sich genommen und repräsentieren in diesem Sinn halt doch den „neuen“ König und die „neue“ Königin.
Heute aber wurde Camilla und Charles die Krone aufs Haupt gesetzt. Die Krone ist ein Strahlenkranz; er deutet die Sonne an, die in ihrer Pracht weitherum leuchtet. Mit ihren Strahlen sucht die Krone gleichsam die Verbindung des Menschen zum Himmel. Die Krone ist rund, ist ein dreidimensionales Mandala und daher, wie auch aufgrund des unzerstörbaren Goldes, ein Symbol für die reichen, unzerstörbaren Werte der Ewigkeit, der inneren Einheit und Ganzheit. Die unschätzbar kostbaren Edelsteine, die in der Krone eingelassen sind, funkeln wie Sterne und erhellen gleichsam den Nachthimmel.
Die Krönung entspricht der alchemistischen solificatio. Die Krone als Strahlenkranz drückt die erleuchtende Qualität des Selbst aus. Ihre ‹Sonnenhaftigkeit›, «…das Aufleuchten des Lichtes aus der Dunkelheit der blossen Natur» bedeutet das Bewusstwerden dessen, was den Sinn eines Lebens überhaupt ausmacht.1
Nebst der Krone gibt es eine ganze Reihe von Emblemen und Utensilien, die zum britischen Monarchen gehören, die sogenannten Regalien, insbesondere den Ring, das Schwert, den Reichsapfel, dieser zum Zeichen der globalen Macht, der religiösen und moralischen Autorität, sowie die beiden Szepter, die dem neuen König anlässlich seiner Krönung in die Hand gegeben werden: An der Spitze des einen Szepters ist ein Kreuz, an der Spitze des anderen eine Taube angebracht. Der Heilige Geist möge die Handlungen des Königs leiten. Aber der Blick auf das Kreuz wird auch dem Monarchen nicht erspart. Ich denke, King Charles ist Mensch genug zu wissen, was das bedeutet.
Die Seelengeleiter in verschiedenen Kulturen haben einen Stab. Das heisst, sie stützen sich gleichsam auf eine wegleitende und richtende innere Kraft ab. Der Stab beziehungsweise das Szepter verleiht solche Macht, allenfalls sogar eine magische Kraft. Jedoch wird sich der Träger des Stabes nie damit identifizieren wollen. Eigentlich auch nicht mit der Krone oder dem goldenen Krönungsmantel. Vielleicht soll ihn ja der Heilige Geist in Gestalt dieses fragilen Vogels vor genau dieser Inflation schützen. Wir sprechen nicht umsonst von einem Würden-träger, und nicht von einem Würden-besitzer.
Und nun zum Thron. Der englische Thron ist über 700 Jahre alt; er wurde 1296 von King Edward I. in Auftrag gegeben. Er ist 2 m hoch, aus Eichenholz gefertigt, vergoldet und mit Stanzarbeiten, die Vögel und auch Heilige darstellen, verziert. Bei 39 Krönungen spielte er eine zentrale Rolle. King Charles wird also mit seiner Thronbesteigung in eine sehr lange Ahnenreihe eingeordnet. Seelisch ist die Kontinuität des Archetypischen absolut wesentlich. Die entsprechenden Rituale setzen Zeichen dafür, dass die Ahnenreihe nicht abbricht, dass also die Archetypen durch ihre Beständigkeit und Verlässlichkeit seelisches Leben auf dieser Erde sichern.
Die symbolische Bedeutung des Thrones erschliesst sich uns vor allem, wenn wir an den Ur-Thron denken, denn dieser versinnbildlicht seit neolythischer Zeit, in ganz Afrika und besonders auch im Pharaonischen Ägypten, den Schoss der Grossen Mutter. Die Göttin Isis selbst ist ja auch der Thron. Wenn sich also der König auf seinen Thron setzt, verbindet er sich gleichsam mit dem Schoss des Weiblichen, d.h. mit der schöpferischen Wirklichkeit und den Gegebenheiten des kollektiven Unbewussten. Diese coniunctio verleiht tatsächlich Macht, im besten Sinn.
Nun noch zu einer Besonderheit des englischen Königsthrons: Direkt unterhalb der Sitzfläche aus Holz wird jeweils für die Krönung der «Stone of Scone» angebracht. Dies ist ein etwa 152 kg schwerer Block aus rotem Sandstein von etwa 66 × 41 × 27 cm Grösse. Er wird auch Coronation Stone genannt, oder Stone of Destiny, «Stein der Vorsehung/Bestimmung» also. Auch hier also eine Parallele zur Individuation, denn auch für uns hat das, wozu wir in unserem Leben bestimmt sind, grosse Bedeutung. «Bestimmung» ist im Grunde das, was unsere Individuation ausmacht und voranbringt.
Der «Stone of Destiny» hat eine bewegte, und, wie könnte es anders sein, eine lange Geschichte, die ich hier nicht nacherzählen kann. Jedenfalls wurde er unter dem Krönungsthron in der Westminster Abbey eingebaut, so dass die englischen Könige seit 1296 bei ihrer Krönung bildhaft auf diesem Stein sassen (oder auch standen). Dieses Jahr wurde er extra für die Krönung von King Charles von Schottland nach London gebracht. – Dazu ist mir der Held vieler Märchen in den Sinn gekommen, der sich oftmals, wenn er nicht mehr weiterweiss, auf einen Stein setzt, sich gleichsam auf den Lapis, auf das Selbst, bezieht – und dann vom mütterlichen Unbewussten wieder Energie erhält, so dass die seelische Entwicklung ihren Fortgang nehmen kann.
Gälischen Legenden nach soll der Krönungs-Stein durch die Tochter eines ägyptischen Pharaos auf die Insel gebracht worden sein. Und nach christlicher Legende hat bereits der Kopf des biblischen Stammvaters Jakob auf diesem Stein geruht, als er die Vision der Himmelsleiter hatte, weshalb er auch als «Jakobskissen» bezeichnet wird. Nach einer weiteren Legende war er ein Teil des Thrones von König David. Solche Legenden haben kaum etwas mit historischen Fakten zu tun. Sie interessieren uns deshalb, weil sie lebenspendende Verbindungen herstellen, und zwar nicht (oder nicht nur) rückwärts in die Vergangenheit, sondern fast eher vorwärts in die Zukunft, nämlich damit die Zukunft sich auf Ewig-Gültiges abstützen kann. Bei einer solchen Besinnung wird unser Ahnenleben genährt, das heisst: der archetypische Hintergrund, den wir in uns tragen und der uns trägt, wird mit frischer Energie angereichert.
Das heiligste Element der Krönungszeremonie ist die Salbung. Seit 1066 wird das Salbungsritual vom Erzbischof von Canterbury vollzogen. Der gegenwärtige Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, äusserte, er werde während der Salbung von König und Königin beten, dass sie geführt und gestärkt werden durch den Heiligen Geist. Gesalbt werden König und Königin an Händen, Brust und Scheitel. Dieser Teil der Krönung durfte bei der Krönung Elisabeths II. (1953) nicht im Fernsehen übertragen werden. Damals überdeckte ein Baldachin die heilige Zeremonie und schützte sie vor profanem Blick; heute stand eine Leibwache mit einem Sichtschutz da, der einen Baum mit 56 Blättern zeigt, darauf eingestickt die Namen der 56 Mitglieder des Commonwealth. – Das Heiligste konnte noch zu keiner Zeit je gezeigt oder gesagt werden.
Während der eigentlichen Salbung trägt der Monarch ein weissliches, schmuckloses Gewand. Alle Zeichen irdischer Eitelkeit und höheren Status’ werden für diesen Moment abgestreift und entfernt, so dass der König gleichsam demütig und nackt vor Gott steht – gleich wie ein Initiand, der nichts anderes will als einfach nur das, was für ihn bestimmt ist.
Allgemein ist die Salbung ein uraltes religiöses Ritual. Belegt ist sie in Babylon, in Ägypten, im Alten und im Neuen Testament. In Israel wurden Könige, Priester und Propheten gesalbt zum Zeichen, dass Gottes Segen auf ihnen ruht und dass sie von Gott her eine neue Autorität bekommen haben. Das Ritual verleiht göttliche Gnade und einen herausgehobenen Status unter den Menschen, dem Gesalbten mag es aber auch vor Augen führen, dass er seine Macht wiederum Gott verdankt. Durch die Salbung wird der König zu einem neuen Menschen.
«Das Öl, speziell als parfümierte Salbe (unguentum), spielt in allen primitiven Riten eine grosse Rolle als kraftgeladene Flüssigkeit, Heilmittel, Schönheitsmittel, Konservierungsmittel der Toten, denen es im konkreten und symbolischen Sinne Inkorruptibilität verleihen sollte.»2 Das heisst, es verleiht Unerschütterlichkeit und Beständigkeit über den Tod hinaus, was wiederum Attribute des Lapis sind. Bereits im März dieses Jahres wurde das sogenannte Chrisam-Öl, das zur Salbung verwendete Öl, in Jerusalem, in der Grabeskirche, gesegnet. Für die Herstellung dieses Öls wurden Oliven aus zwei Hainen am Ölberg verwendet; sie wurden in Jerusalem gepresst und dann in einer silbernen Urne nach Westminster gebracht. Das heutige Krönungs-Öl basiert auf einer Jahrhunderte alten Formel, allerdings mit einem kleinen Unterschied. So enthält die heilige Mischung gleich wie bei Königin Elisabeth und vielen Vorgängern auch bei Charles und Camilla Sesam-Öl, Rosen-, Jasmin-, Zimt-, Bernstein-, Orangenblütenöl und weitere Essenzen – aber Charles wollte auf das traditionelle Ambra-Öl, Ambergris, eine Substanz, die dem Darm des Pottwals entnommen wird, verzichten. Ein Zeichen dafür, dass Charles die Würde des Tieres und der Natur achtet.
Ich könnte mir vorstellen, dass Traditionen nicht nur dann einen – zurecht geforderten – Wandel erfahren, wenn nicht mehr zeitgemässe Rituale abgeschafft werden, was Charles ja tatsächlich tut, oder wenn sie nach äusserem Geschmack modernisiert und angepasst werden, sondern auch, wenn wir verstehen, welche Aussage sie eigentlich machen. Altes Wissen wird in dem Sinn erneuert, wenn wir eine neue Auffassung dafür gewinnen und begreifen, was im Grunde dahinter ist. Das ist, was Jung sein Leben lang gemacht hat. Durch das Verständnis vom Sinn der Rituale werden sie wieder frisch und neu.
Darum die Frage: Wie können wir psychologisch, symbolisch eine Substanz verstehen, die einen völlig neuen Zustand des Menschen herbeiführen kann, wie eben das Salböl? König und Königin sind im Moment der Salbung gleichsam im Besitze Gottes. Sie gehören nicht, jedenfalls nicht nur, sich selbst, und schon gar nicht dem englischen Volk mit seinen weltlichen Erwartungen, sondern sie gehören einer höheren Macht. Anschliessend werden sie wieder ganz gewöhnliche Menschen sein. Sie werden wieder Dummheiten machen, worüber dann das Volk wieder lachen oder sich empören kann. Aber in einem Moment ihres Lebens gehören sie Gott. Und das macht den ganzen Unterschied. Ich glaube nun allerdings, dass auch unser Leben durch eine Erfahrung des Selbst im Tiefsten gewandelt wird. Und dann ist das Leben eines Einzelnen eigentlich nie mehr das gleiche, auch wenn es von aussen gesehen relativ gleich weitergeht. Die Salbung bedeutet, dass der König «von Gottes Gnaden» ist. Wir würden sagen: Er steht im Einklang mit dem Selbst. Aufgrund der Eros-Qualität des Öls entsteht eine Bindung an die göttliche Dimension. Und diese Bindung wirkt transformierend.
Nun noch etwas ganz anderes. Ich habe zwar keine offizielle Einladung zur Krönungsfeier erhalten – und Ihr offenbar auch nicht, sonst wärt Ihr wahrscheinlich nicht da – aber ich habe das Blatt, das an zirka 2000 geladene Gäste verschickt wurde, auf dem Internet genauer betrachtet. Es zeigt zuoberst die beiden prächtigen Wappen von Charles und Camilla, an den Seitenrändern viele Blumen und Blümchen, auffallend irgendwo dazwischen zwei rote Erdbeeren, zwei Vögelchen, eine Biene und ein kleiner, tanzender Löwe, alles Manifestationen der Mutter Natur, vor allem ihrer hellen Seite. Dann aber guckt einen am unteren Rand eine Figur aus der britischen Folklore an: der sogenannte «Green Man». Auch er mit einem angedeuteten Blumenkrönlein: Offenbar ist auch er festlich gelaunt, ganz nach dem Motto «Die Natur freut sich der Natur.» Denn ja, «The Green Man» repräsentiert den Geist der Natur, ganz ähnlich wie sein Namensvetter Chidhr, einfach viel englischer. In England ist er bekannt als Blattgesicht, als eine Skulptur, oft aus Sandstein an Kapitellen oder beim Sockel einer Säule, oder bei Portalen auch in Holz geschnitzt. Manchmal besteht sein ganzes Gesicht aus Blättern, und manchmal wächst ihm das grüne Laub aus Ohren, Mund und Nasenlöchern. Diese Komposition aus Menschenkopf und grünen Blättern drückt eine Einheit des Menschseins mit der vegetativen Welt aus. Oder ich könnte sagen: Auch die Vegetation hat einen «Kopf», ein Bewusstsein also, wenn auch ein ganz anderes.
Mir hat gefallen, dass auf der Einladungskarte auch dieses archaische Naturwesen Platz gefunden hat. «The Green Man» verheisst nie abbrechendes Wachstum. Anscheinend ist der Drang zu werden, sowohl biologisch als auch psychisch, einfach gewaltig. Er ist ein Geist des Werdens, der das Leben ständig weiterträgt, weiter und weiter und weiter.
Schliesslich möchte ich noch ein letztes Detail des heutigen Krönungsrituals erwähnen: den wunderbaren Mosaikboden vor dem Hochaltar der Westminster Abbey. Ich habe meine kleine symbolische Betrachtung bei der Krone oben begonnen und möchte mit dem Boden unten, auf dem das Krönungsritual stattfindet, aufhören. Ich spreche hier von jenem zentralen Teil des Kirchenbodens der Westminster Abbey, der als «Cosmati Pavement» bekannt ist (benannt nach einer italienischen Familie, die das Kunsthandwerk besonders gut verstand), und der im Jahre 1268 auf Anordnung von König Heinrich III. verlegt wurde. Jahrzehntelang lag der prächtige Mosaikboden wegen Reparaturbedarfs unter Teppichen verborgen. Jetzt ist er renoviert und wieder sichtbar gemacht.
Er zeigt im Wesentlichen ein Mandala, ein Quadrat, in welches ein weiteres, auf dem Spitz stehendes Quadrat eingefügt ist. Die Eckflächen sind gefüllt mit vier kreisförmigen Gebilden, also lauter weiteren Mandalas, in deren Inneren jeweils verschiedene, relativ bunte Mosaike mit Sternen- und Ornamentmuster strahlen. Darum herum legt sich ein breites Mosaikband mit 4 mal 5 weiteren Kreisflächen. Im Zentrum des grossen Mandalas hebt sich nochmals ein Kreis ab, man könnte sagen ein fünfter in der Mitte von vier Kreisen; dieser mittlere ist viel heller als die anderen, und in seinem Kern erkenne ich eine Marmorfläche mit einem unregelmässigen Muster im Stein selbst.
Dies ist die grösste Fläche, und enthält eben nicht ein vom Menschen gestaltetes Kunstwerk, sondern diesen einen, von der Natur erschaffenen und vom Menschen naturbelassenen Stein. – Letztlich ist im Zentrum das Mysterium der Natur. Dem Menschen scheint die Aufgabe gegeben, dieses immer wieder ein Stück weit zu fassen und mit seiner Kunst neu zu gestalten. So versucht der Mensch, dem Naturhaften durch sein Bewusstsein einen Rahmen zu schenken, wohl wissend, dass auch dieser wiederum von Gott gegeben ist. Gleich neben diesem Mosaikboden ist eine geheimnisvolle Inschrift angebracht. Sie sagt das Ende der Welt voraus, nämlich in 19’683 Jahren. Ist es nicht tröstlich, dass also der Weltuntergang noch etwas aufgeschoben ist, sogar in eine noch unvorstellbar weit vor uns liegende Zukunft? Es sieht so aus, als hätte der Mensch noch ein bisschen Zeit für seine weltlichen Aufgaben. Und davon sehen wir ja gewiss mehr als genügend. Packen wir also diese Aufgaben an, vergessen wir aber nicht – und das könnten meine paar Gedanken zur Krönungsfeier in Erinnerung rufen – vergessen wir nicht, dass alle unsere Aktivitäten, auch oder gerade die kleinen, scheinbar unbedeutenden letztlich in einem heiligen, ewigen, archetypischen Rahmen gehalten sind.
1 |
Vgl. Gotthilf Isler, «Die Krönleinschlange», Lumen Naturae, S. 171 |
2 |
Marie-Louise von Franz, Passio Perpetuae, Zürich 1992, p. 93. |