Themenschwerpunkt: Damals und heute
Wem geht es nicht gelegentlich durch den Kopf, die Welt sei heute nicht mehr die gleiche wie damals? Vor allem älter werdende Menschen höre ich seufzen. Es werde immer schwieriger, sich an technische Erneuerungen zu gewöhnen, die Verrohung der Sitten sei beklagenswert oder die Verarmung der Sprache. Die Welt sei so kalt geworden. Wir alle haben unsere Lebensbereiche, wo uns die Unterschiede zwischen damals und heute besonders nahegehen, die einen zum glücklichen Vorteil, andere deutlich zum schmerzlichen Nachteil. Je nach Temperament und Lebensumständen haben wir Mühe, mit den rasanten Veränderungen überhaupt klarzukommen. Viele lieb gewonnene Gewohnheiten der Vergangenheit müssen wir den Neuerungen der Zeit opfern. Den allgemeinen Wertewandel schätzen manche als bedrohlichen Wertezerfall ein, wahrscheinlich zu Recht.
Die Optimistischeren unter uns beurteilen die vielen Modernisierungen eher im Sinne von Möglichkeiten und Chancen, die es früher nicht gegeben hat. Beschwerliches werde uns durch Maschinen und Computer abgenommen, argumentieren sie, und haben wahrscheinlich ebenfalls Recht. Die einen nutzen die Vorteile der künstlichen Intelligenz ohne allzu viele Bedenken. Gerade hier sehen wiederum andere schwarz. Die Reihe von Veränderungen, denen wir entweder nostalgisch besorgt oder euphorisch begeistert begegnen, liesse sich beliebig lange fortsetzen.
C.G. Jung hat noch ganz anders über «Damals und heute» nachgedacht. Nebst dem, dass er ein äusserst genauer Beobachter seiner Gegenwart war, haben ihn die grossen Bögen der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit interessiert. Sein Werk ist deshalb voll von historischen und mythologischen Bezügen, ja es fusst ganz wesentlich auf ihnen. Jung interessierten die Wurzeln des Bewusstseins. Entsprechend titelte er eine seiner Abhandlungen «Von den Wurzeln des Bewusstseins» (später «Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen»), um darin Grundlegendes über das Wesen des Archetypischen darzustellen. Ohne die Wurzeln zu berücksichtigen und also ohne das ursprüngliche Wesen der menschlichen Psyche und der Bewusstseinsentwicklung zu studieren, hätte er seine bedeutenden Aussagen über den heutigen Menschen nicht machen können. Die gängigen Ansichten im kollektiven Bewusstsein hat er keinesfalls ignoriert, er hat das politische Geschehen sogar sehr ernst genommen, aber Erklärungen hat er immer im Dahinterliegenden gesucht. Jungs Verständnis des Menschen ist in einem sich über alle Zeiten erstreckenden Bild eines «ewigen» Menschen begründet. Die Entwicklung des Bewusstseins, so hat er gezeigt, hängt eng mit den archetypischen Bedingtheiten zusammen, die im einzelnen Menschen realisiert werden wollen.
Stark verkürzt könnten wir sagen, dass das Wissen um das «Damals» die Bedeutung des «Heute» mitgestaltet, und mitentscheidend dafür ist, wie das «Morgen» aussehen könnte. Denn letztlich geht es C.G. Jung immer wieder um das Morgen, um das Junge, das Zukünftige, das aus dem Gestern und Heute geboren wird. Ein neues, verlässliches Bewusstsein kann sich nur auf dem gesunden Boden des Archetypischen entwickeln. Das Archetypische bleibt sich im grossen Fluss der Zeiten gleich, wir aber können, und müssen anscheinend, zu verstehen versuchen, in welcher Form es uns im eigenen persönlichen Leben entgegentritt und welche Antworten wir geben können. Darin dürfte unser minimaler und dennoch absolut wesentlicher Beitrag zur Bewusstwerdung des Selbst bestehen.
Die Vorträge im kommenden Semester, von Januar bis Juni 2025, finden alle ihren Platz in diesem Rahmen und also unter dem Motto «Damals und heute». In allen Forschungen oder Buchpublikationen wird im Grunde versucht, Gegenwärtiges mit dem Archetypischen zu verbinden.
Brigitte Huber hat sich dafür eine Interpretation des Grimm-Märchens «Das blaue Licht» vorgenommen; Regine Schweizer stellt psychologische Betrachtungen über ein Glasfenster von Sigmar Polke im Zürcher Grossmünster an; Thomas Fischer geht in einem neuen Buch einigen Stationen auf dem hingebungsvollen Lebensweg seiner Grossmutter Emma Jung nach; Annette Wilke erforscht die Mystik der Upanischaden und Alan Drymala eine tschechische Variante des Rosarium Philosophorum; Sabine Mayer-Patzel stellt die Bilderserie von Marika Henriques in Zusammenhang mit dem ägyptischen Erneuerungsmythus; Brigitte Jacobs schliesslich greift ein ägyptisches Märchen auf, um uns die Weisheit des Herzens näherzubringen. Das Frühling-Sommer-Semester wollen wir im Psychologischen Club mit einer kleinen, aber würdigen Feier zum 150. Geburtstag von C.G. Jung abrunden.
Der Psychologische Club selbst hat ein Damals und ein Heute. Viele schätzen an seiner äusseren Erscheinung das alte Mobiliar von damals und die seit Jahrzehnten gleich gebliebene Atmosphäre in den Club-Räumen, anderen kommt es vielleicht zu wenig heutig, dafür etwas muffig vor. Die Geschichten und Anekdoten aus früheren Zeiten des Clubs hören und lesen wir immer wieder gern: Sie bringen uns zum Schmunzeln und machen uns, je nachdem, auch nachdenklich. Die Erinnerung an die Anfangszeiten sind kostbar und wollen bewahrt werden; sie führen nicht selten zur Erkenntnis, dass die Probleme und Projektionen damals und heute ganz ähnliche waren. Wir sind im tiefsten Wesen eben immer noch die gleichen Menschen.
Die Wahrnehmung der Gegenwart und die Reflexion über deren ganze Kompliziertheit scheint für die Bewusstwerdung unabdingbar zu sein, jedoch ist anscheinend auch der Bezug zu den archetypischen Wurzeln unumgänglich oder, wie Jung einmal schreibt, zu «jenem Symbolprozess, der sich durch Äonen fortsetzt und als ursprünglichste Manifestation des menschlichen Geistes auch die Wurzeln aller zukünftigen Schöpfung sein wird.» («Gegenwart und Zukunft», GW 10, § 585) Hier verbindet Jung in einem einzigen Satz das Damals mit dem Heute und dem Morgen. Wenn wir uns auf Zukünftiges ausrichten möchten, das heisst auf einen neuen, kommenden Geist, der im Unbewussten heranwächst, so sollten wir paradoxerweise auch wissen, dass der Boden des Neuen das seit jeher Bestehende, das Archetypische ist.
Dezember 2024, Irene Gerber