
Teufelsbrücke in der Schöllenen, Kanton Uri
Wo der Mensch nach neuen segensreichen Verbindungen sucht, ist oft auch der Teufel nicht weit. Daran erinnert uns die Sage von der Teufelsbrücke über die Schöllenenschlucht im Kanton Uri:
Schon seit dem 13. Jahrhundert hatten die Urner immer wieder versucht, eine Brücke über die wilde Reuss zu schlagen, um den Weg in den Süden zu sichern. Zu oft waren Säumer mit ihren Maultieren und Waren in die Tiefe gestürzt. Als die Urner wieder einmal darüber rätselten, wie die Schöllenenschlucht zu überwinden sei, rief ein Landamman verzweifelt aus: «Do sell der Tyfel e Brigg bue.» «Soll doch der Teufel selber eine Brücke bauen!» Der Teufel war sogleich zur Stelle und offerierte den Leuten von Uri einen Pakt: Er würde ihnen schon eine sichere Brücke bauen, aber die erste Seele, die die neue Brücke überschreitet, soll ihm gehören. Man ging auf diesen Handel ein und schon bald war eine neue starke Brücke über der Schlucht errichtet. Die Urner werweissten eine Weile, wen sie nun hinüberschicken sollten, bis ein schlauer Bauer die geniale Idee hatte, seinen Geissbock loszubinden und auf die andere Seite zu treiben. Rasend vor Wut, ergriff der betrogene Teufel einen Felsblock und drohte, sein eigenes Werk gleich wieder zu zerstören. Im letzten Moment trat ein altes Weiblein hinzu und ritzte ein Kreuz in den Stein. Und so verfehlte der Teufel sein Ziel. Der Fels rollte weiter, bis er weiter unten im Tal zum Stehen kam, und wo wir ihn noch heute staunend besuchen können.
Symbolisch verstanden hatte das Weiblein mit dem Kreuzzeichen seine eigene Ganzheit ins Geschehen eingebracht. Da war der Teufel glücklicherweise machtlos! Die Brücke wurde zum Segen, denn das Tor zum Süden stand nun offen. Und doch bleibt uns vielleicht ein fader Nachgeschmack beim Gedanken, dass der Teufel ausgetrickst wurde. – Wird er sich wieder melden bei einem nächsten «Brückenprojekt». Wie können wir ihm dann aufrichtiger gerecht werden? Wie gehen wir heute mit dem Schatten um, ohne den es offensichtlich keinen Schritt der Bewusstwerdung gibt? Brauchen wir vielleicht ein Symbol, das auch ihn mitberücksichtigt?

Manchmal müssen wir in unserem Leben eine unbekannte Brücke betreten. Nicht jede Brücke verspricht nämlich auch Gewissheit, dass sie uns zu einem guten Ende führen wird. Einen Traum in aller Konsequenz ernst zu nehmen, kann unter Umständen eine solche Brücke sein: Man weiss nicht immer, wohin das Unbewusste einen führen wird, und doch muss man den Weg gehen. Ein Symbol für das Unbekannte zu haben, oder einen Mythos des eigenen Lebens zu besitzen, ist in diesem Sinn die verlässlichste Brücke in Zeiten des Übergangs.

Schliesslich soll uns das Bild von der Triftbrücke im Grimselgebiet mit Zuversicht erfüllen. Der Mensch darf diese Brücke vertrauensvoll überqueren. Sie wurde errichtet dank eines Zusammenspiels von genialen schöpferischen Einfällen und dem Fleiss menschlicher Brückenbauern. Der tiefe, erschreckende Abgrund ist zwar immer noch vorhanden, ein Handlauf aber auch.
Jeder der Referenten des Psychologischen Clubs im Herbst 2022 wird versuchen, die Symbolsprache seines Stoffes so zu übersetzen, dass er beiträgt, den Übergang (transitus) zu machen: Irene Gerber anhand eines Grimm-Märchens, Ruedi Högger mit Hilfe eines Mythos aus Indien, Eva Wertenschlag in ihrer Studie des Schöpfungsmythos der Dogon, Fides Vögeli im Alexanderroman des persischen Dichters Nizami, Denise Rudin in der Krabat-Sage aus der Lausitz. Und vielleicht wird uns Jim Fitzgerald zeigen, dass sogar das Schweigen, die Stille zur schöpferischen Brücke werden kann.
Die Sehnsucht, Brücken zu schlagen, ist tief in uns drin. Indem der Einzelne in seinem Individuationsprozess begreift, Gegensätze auszuhalten, wird er – so ist jedenfalls unsere Hoffnung – mit der Zeit selbst zur Brücke.
Irene Gerber, Im Juli 2022