Menu
Psychologischerclub
Menu
 
top

top
D E
pcz_bibliothek_021.jpg

Barbara Hannah

TIEFE UND GRENZENLOSE DANKBARKEIT

Katharina Bona, lic. phil. I

Mit 93 Jahren sagte Barbara Hannah zu einem Freund, dass es sie nicht interessiere, ob man sich an sie erinnere oder nicht. Und doch – sie ist so zeitlos präsent in ihren Werken, dass es unmöglich ist, sich nicht an sie zu erinnern. Als sie sich einmal in den Bergen, auf einer Bank sitzend, mit Jung über den Tod unterhielt, meinte der: «Wir sitzen heute hier und wenn ich gegangen bin, sitzen wir immer noch hier.» Auch Barbara Hannah sitzt immer noch hier neben uns. Sie bleibt unvergessen.

Barbara Hannah in Bollingen

In der berührenden Hommage an seine Analytikerin – Barbara Hannah war während Jahrzehnten seine Stütze – gibt uns Dean L. Frantz Einblick in ihr Leben, erzählt neben vielen Fakten einige Anekdoten; Lustiges und Trauriges aus ihrer Zeit mit Jung, Erfahrungen mit dem Club und seinen Mitgliedern und von ihrem Zusammenleben mit Marie-Louise von Franz. Er erweckt Barbara Hannah zum Leben mit seinem tiefen Respekt vor einer Frau, die – von ihren Träumen geleitet – ihr Leben der jungschen Psychologie, dem Schreiben, ihren Studenten, Analysanden und vor allem ihrem Lehrmeister, C.G. Jung, gewidmet hat.

Barbara Hannah wurde im August 1891 in Brighton, England als Tochter eines Pfarrers und späteren Dekans der Anglikanischen Kirche in Chichester geboren. Als fünftes Kind war sie offenbar nicht überaus willkommen, hatten doch beide Eltern mannigfaltige gesellschaftliche Verpflichtungen und so wuchsen die Kinder meist unter der Obhut von Kindermädchen und Gouvernanten auf. Doch dem Vater hat sie ihre Liebe zu Pferden zu verdanken. Der setzte sie schon mit drei Jahren auf ein Pony, weil sie lange partout nicht laufen lernen wollte. Die Liebe zu Tieren hat sie Zeitlebens begleitet. In ihren Cat, Dog and Horse Lectures1 ist diese tiefe Zuneigung spürbar. Ihre Mutter starb, als sie fünfzehn Jahre alt war.

Bis zu dem Moment, als jemand der jungen Frau Jungs Buch (sie hatte Jung vorher nicht gekannt) über die Psychologischen Typen in die Hand drückte, war sie immer auf der Suche nach ihrer Bestimmung, nach dem Sinn ihres Lebens gewesen. Ein Jahr später entdeckte sie einen Artikel von Jung, in dem er über die Probleme der modernen Frau2 schrieb. Sie war fasziniert von seiner ganz anderen Art zu denken, kaufte und las darauf alle Bücher Jungs, die es damals auf Englisch gab. Sie ahnte, dass das Leben noch ganz andere Möglichkeiten für sie bereithalten könnte. Sie war verlobt und es war beschlossen, dass sie heiraten und für eine Familie da sein würde. Doch als ein Unfall ihres Verlobten eine Entscheidung forderte, hatte sie einen wegweisenden Traum, der ihr gebot, ihn zu verlassen und in die Schweiz zu reisen. Schon damals vertraute sie ihrer inneren Stimme, denn dieser überaus schwerwiegende Schritt gab ihrem Leben in der Folge einen ganz anderen Verlauf. 1929 führte er sie nach Zürich zu Jung, zu dem Mann, von dem sie sagte, er wisse mehr als alle anderen Menschen, die sie bis anhin gekannt habe.

Jung, der selten Anfänger als Analysanden annahm, schickte die wissensbegierige junge Frau nach den zwei ersten Sitzungen zu Tony Wolff, welche sie nach einiger Zeit weiter verwies an Peter Baynes3. In ihrer Biographie zu Jungs Leben und Werk betont sie, wie viel ihr Tony Wolff in ihrer Analyse gegeben habe. Es war schliesslich ein unmissverständlicher Traum, ein seelisches Bild ihrer inneren Zerrissenheit zwischen den verschiedenen Analytikern, der ihr 1931 den ersehnten Zugang zur Analyse mit Jung gab, die dreissig Jahre dauern sollte. In einer Rückschau auf ihr Leben sagte sie einmal, dass dies im Leben ihr grösstes Glück gewesen sei.

Die Beziehung zu Jung

Barbara Hannah hat nach ihren Analysestunden, den Seminaren und nach besonders interessanten Gesprächen immer alles aufgeschrieben, darum konnte sie beim Schreiben der Biographie aus dem Vollen schöpfen. Lebendig schildert sie ihr erstes Gespräch mit Jung, das am 14. Januar 1929 stattfand. „Es ist schwierig, ihn [Jung] mit Worten zu beschreiben“, schreibt sie, „denn sein Äusseres veränderte sich dauernd. Er konnte sehr ernst aussehen, dann auf einmal ergötzte ihn etwas, und die Sonne trat sozusagen hinter den Wolken hervor…. Er hatte die Angewohnheit, Leute über den Rand seiner Brille hinweg anzusehen…. Mit einem unauffälligen Blick konnte er mehr sagen, als irgendjemand, den ich je sah.“4 Doch „[m]ir schien, dass niemand, den ich kannte, gleichzeitig direkter und erbarmungsloser sein konnte als Jung – er war es in der Tat, nötigenfalls schon in der ersten Stunde –, der aber offensichtlich auch ausgesprochen warmherzig war und eine seltene Menschenliebe besass.“5 Die junge Barbara fühlte sich Jung vom ersten Augenblick an so nah, dass sie das stärkste „sentiment du déja vu, das ich je gespürt hatte“, erlebte. Doch es dauerte eine Weile, bis sie in den Kreis um Jung herum aufgenommen wurde.

Aber Barbara Hannah gab nie auf. Mit der Zeit entwickelte sich auch ausserhalb der Analyse eine spezielle, Dean L. Frantz nennt es eine beneidenswerte Beziehung zu Jung, und sie wurde einige Male in den Turm eingeladen. Als sie das erste Mal dorthin kam, erschrak sie. Sie schreibt, dass sie sich ins Mittelalter zurückversetzt fühlte, weil es so kalt und dunkel war. Das stundenlange, schweigsame Werkeln Jungs am Kochherd schüchterte sie ein. Instinktiv fühlte sie aber, dass sie um ihrer Beziehung zu Jung willen dieses Schweigen auf sich nehmen musste. Auch später verstand sie es immer wieder, sich der Situation anzupassen, im rechten Moment da zu sein und zu handeln, wann und wo es nötig war.

Barbara Hannah muss eine ausgezeichnete Autofahrerin gewesen sein, denn immer öfter wurde ihr die Rolle der Chauffeuse übertragen. Sie schreibt: „Da ich schon viel länger als Toni … gefahren war, sah ich mich nachts oder auf schwierigen Strassen oft plötzlich in die Funktion des Chauffeurs versetzt; so ergab es sich, dass ich Jung öfter umherfuhr. Im Laufe der Jahre … wurden diese Fahrten immer häufiger. Zuletzt fuhr ich ihn einen Monat vor seinem Tod.“6 So kam sie immer wieder in den Genuss interessanter Gespräche, die ihr sehr viel bedeuteten.

Den gewichtigen Vorwurf, Jung habe während des zweiten Weltkrieges mit den Deutschen kollaboriert, widerlegt sie in ihren gewissenhaften Aufzeichnungen in C.G. Jung, Sein Leben und Werk im Kapitel „Gewitterwolken über Europa“.7 So wie sie ihre eigene Rolle in dieser Sache beschreibt, war Barbara Hannah in gewissen Situationen offenbar Jungs einzige Vertraute, denn weder seine Frau noch Toni Wolff waren in das Projekt eingeweiht worden, das im zweiten Weltkrieg ein frühzeitiges Ende der Kriegshandlungen hätte herbeiführen sollen. Einige führende Psychiater aus der Schweiz und einer aus Deutschland, der Zugang zum Hauptquartier der Nazis hatte, baten Jung 1942 um Mithilfe beim Versuch, Hitler zu einem Friedensschluss zu bewegen. Als unverdächtige Kurierin hätte Barbara Hannah wichtige Papiere nach England schmuggeln sollen. Wie schwer ihr diese Rolle wohl gefallen wäre liest man in ihrer trockenen Bemerkung, dass sie dann während des Krieges nicht mehr hätte in die Schweiz zurückkehren können. Da das Unbewusste in einem ihrer und in Jungs Träumen begonnen hatte, das Projekt zu kritisieren, verlor Jung das Vertrauen in die Mission und alles verlief im Sand. Diese Episode zeigt Barbara Hannahs Hingabe und absolute Treue zu Jung und seiner Arbeit, deren Unbedingtheit Aussenstehende oft nicht verstanden haben.8

Barbara Hannah und Marie-Louise von Franz

Im Herbst 1946 riet Jung Marie-Louise von Franz und Barbara Hannah eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, denn er vertrat die Meinung, dass es für Unverheiratete besser war, in einer Wohngemeinschaft zu leben.9 Während 25 Jahren, bis zu Barbara Hannahs Tod, lebten sie zusammen an der Lindenbergstrasse 15 in Küsnacht und im Turm in Bollingen, den Marie-Louise von Franz 1958 baute. Dort entstand auch der grösste Teil der Biographie C.G. Jung, Sein Leben und Werk, die Barbara Hannah auf Anraten von Esther Harding10 und William H. Kennedy schrieb. Darin nennt sie Marie-Louise von Franz Modell und Vorbild für den Individuationsprozess. Ganz persönlich habe sie ihr mit ihrem gesunden Menschenverstand sehr geholfen, wenn ihr eigener Animus wieder einmal mit ihr durchgebrannt war. Der Anfang ist für beide allerdings kaum leicht gewesen, denn Barbara Hannah war 23 Jahre älter als Marie-Louise von Franz und lud geradezu zur Übertragung des negativen Mutterbildes, unter dem Marie-Louise von Franz litt, ein. Barbara Hannah war allerdings gewappnet, denn als sie Jung die Frage stellte, warum er es so gut fände, sie zusammen zu bringen, hatte er eben diesen negativen Mutterkomplex erwähnt. Er war auch völlig davon überzeugt, dass Menschen, die als Analytiker arbeiteten, nicht allein leben sollten, denn nur durch die Überwindung eigener zwischenmenschlicher Probleme könne man auch diejenigen anderer Menschen verstehen, und er fügte bei: „I have given you someone who will give you a lot of trouble.“11 Doch genau dies schätzte Marie-Louise von Franz an ihrer Mitbewohnerin: Man konnte mit ihr, der offenen, loyalen Freundin, Meinungsverschiedenheiten austragen und sich im Guten wie im Schlechten auseinandersetzen. Barbara Hannah ihrerseits zeigte höchste Bewunderung für Marie-Louise von Franz’ berufliche Fähigkeiten und sie sprach mit grosser Zuneigung von ihr.12

Der Psychologische Club

Barbara Hannah war noch nicht in der Schweiz, als Jung im Jahre 1916 den Psychologischen Club gründete. Sie kam erst im Januar 1929 zum ersten Mal nach Zürich, doch von Emma Jung und Toni Wolff vernahm sie einiges von dessen Anfangsschwierigkeiten. Doch er hat überlebt, und es ist erstaunlich, wie authentisch und ganz im Sinne von Jung der Psychologische Club bis heute geführt wird. Auch heute stehen die Vorträge – damals waren es Vorlesungen – und Diskussionen im Mittelpunkt, aber nicht minder wichtig waren und sind damals wie heute der persönliche Kontakt zwischen den Mitgliedern und die Möglichkeit gleichgesinnte Menschen zu treffen. Sogar beim Apéro haben sich nur die Bezeichnung und die kulinarischen Gepflogenheiten geändert!

In C.G. Jung, Sein Leben und Werk berichtet Barbara Hannah, wie schwierig es für sie gewesen war, Zugang zum Club zu erhalten. Es dauerte eine Weile, bis sie im Kreis der Menschen um Jung zugelassen wurde. Zu den deutschen Seminaren war sie anfänglich nicht eingeladen. Jung und Tony Wolff liessen sie wissen, dass ihr Deutsch trotz ihres deutschen Kindermädchens, das sie und ihre Geschwister während einiger Zeit betreut hatte, zu wenig gut sei, um die Vorträge zu verstehen. Jung hatte den Wunsch, die Zahl der Clubmitglieder klein und übersichtlich zu halten, darum (und aus noch ganz anderen Gründen, die sie aber nur geheimnisvoll andeutet) wurde sie erst 1933 als Mitglied im Club aufgenommen. Jeder, der dem Club beitreten wollte, musste „ein wahres Trommelfeuer an Widerstand überstehen, bevor sich ihm die Chance bot, eingeschriebener Gast zu werden, womit man aber noch lange nicht Mitglied war.“13 Die „Torwächterin“, wie sie Toni Wolff, die damals Präsidentin war, nannte, war offenbar sehr tüchtig. Doch immer wieder betont Barbara Hannah, wie ausgesprochen wichtig Toni Wolff als Präsidentin
für den Psychologischen Club gewesen sei. In ihrer überaus ehrlichen Art erwähnt Barbara Hannah aber auch die Schwierigkeiten, die sich ergaben: „Durch ihre ausgesprochen introvertierte Veranlagung machte ihr [Tony Wolff] der Club zuerst zu schaffen. Aber mit der Zeit liess sie immer mehr Energie einfliessen und wurde mit Abstand der beste Präsident [sic], den der Club je besass. Der Club verdankt ihr, von Jung abgesehen, mehr als sonst irgend jemandem“.14

Einige von Barbara Hannahs früheren Analysanden oder Menschen, die mit ihr gut bekannt waren, erinnern sich mit Dankbarkeit an sie. Im Vorwort zu ihren Lectures on Jung’s Aion schreibt Emmanuel Kennedy, dass sich ausser Jung wohl niemand intensiver mit den Gegensätzen in der menschlichen Natur beschäftigt habe als sie. Er vermutet, dass dies darum der Fall war, weil ihr Schicksal sie dazu gezwungen habe, sich mit den Gegensätzen in ihrem eigenen Leben bewusst auseinanderzusetzen. Dieser inneren Notwendigkeit beugte sie sich und hielt Vorträge im Psychologischen Club und am C.G. Jung Institut in Zürich bis zu ihrem Tod. Kennedy schreibt weiter, dass Barbara Hannah bekannt gewesen sei für ihre einfache, weibliche, introvertierte Weisheit. Und Marion Woodman, damals auch Studentin am Jung Institut, sagt über ihre frühere Analytikerin, wie dankbar sie gewesen sei für deren Präsenz und weibliche Fähigkeit, im Moment zu leben, so wie er sich eben gerade ergab. Alfred Ribi, der Psychiater und Autor des Büchleins über Neurosen aus der Sicht C.G. Jungs Der normal kranke Mensch15, bewunderte ihren Mut, zu gewissen Themen ihren Standpunkt vertreten zu können, auch dann, wenn sich niemand zu äussern wagte. Er meint, die Wahrheit sei – ohne Kalkül und Besserwisserei – direkt ihrem Selbst entsprungen.16

Barbara Hannah hat ganz gewiss Jungs Wunsch, dass es jedem Menschen gelingen möge, in dieser Welt Spuren zu hinterlassen, erfüllt. Sie hat den Individuationsprozess, dem sie in ihrem Buch Striving Towards Wholeness im Leben und Werk der Brontë Kinder nachgespürt hat, selber gelebt. In ihrem Streben hin zur eigenen Ganzheit ist sie uns Vorbild, weil sie uns den Weg in unerschütterlicher Treue vorangegangen ist.

1
Barbara Hannah, The Cat, Dog and Horse Lectures and „The Beyond“, Dean L. Frantz, Ed., Chiron Publications, 1992.
2
Marie-Louise von Franz, „C.G. Jung und die Probleme der modernen Frau“, in: Jungiana Reihe A, Band 6, Verlag Stiftung für Jung‘sche Psychologie, Küsnacht, S.9 ff und „Die Frau in Europa“, in: GW 10, §§ 236-275.
3
Einer der ersten englischen Ärzte, der zu Jung nach Zürich kam und diesem oft in seiner Praxis assistierte,    siehe C.G. Jung, Sein Leben und Werk, Verlag Stiftung für Jung‘sche Psychologie, Küsnacht und Emmanuel Kennedy, 2006, S.180-181.
4
Barbara Hannah, C.G. Jung, Sein Leben und Werk, Verlag Stiftung für Jung’sche Psychologie, 2006 Küsnacht, S.246.
5
Ebd., S.248.
6
Ebd., S.293.
7
Ebd., 270-310.
8
William R. Sanford, in Barbara Hannah, The Inner Journey, Lectures and Essays on Jungian Psychology, S. 150 und Barbara Hannah, C.G. Jung, Sein Leben und Werk, S.354-355.
9
Barbara Hannah, „In Tune with the Unconscious“, in: The Cat, Dog and Horse Lectures, S.18.
10
Die englische Ärztin Esther Harding war eine der Gründerinnen der ersten „jungschen Gruppe in New York“   und Verfasserin von mehreren Büchern zu jungscher Psychologie, siehe C.G. Jung, Sein Leben und Werk, S.182-183.
11
Ebd., S 19.
12
Ebd., S.18-20.
13
Ebd., S.255.
14
Barbara Hannah, C.G. Jung, Sein Leben und Werk, S.254-255.
15
Jungiana, Reihe B, Bd. 8.
16
William R. Sanford, Alfred Ribi, in: Barbara Hannah, The Inner Journey, Lectures and Essays on Jungian Psychology, S.148-150.
top

top