Themenschwerpunkt: Angewandte Jungsche Psychologie
Wenn wir das Herbst-Programm 2024 unter das Motto «Angewandte Jungsche Psychologie» stellen, so möchten wir nicht nur an den Begriff «Anwendung» im Gegensatz zu «Theorie» denken, denn die Anwendung der Jungschen Psychologie betrifft, in einem weiteren Sinn verstanden, das symbolische Verständnis der Dinge.
Ein uns faszinierender Stoff, sei es ein Ritual, ein Mythos, ein mathematisches Gesetz, gemalte oder gedichtete Bilder, und nicht zuletzt historische Fakten werden umfassender und bedeutsamer, wenn wir ihren symbolischen Gehalt erforschen. Die symbolische Auffassung des faszinierenden Stoffes, der etwas psychisch Lebendiges ist, macht eine ganz neue Qualität sichtbar oder ermöglicht gar eine neue Sicht auf die Welt. Sehen wir hingegen die natürlichen Dinge und die alltäglichen Ereignisse nur von aussen – nur als figures and facts, nur als messbare Fakten –, werden wir ihnen im Grunde nicht gerecht. Denn sie sind eigentlich immer «mehr». Deshalb versuchen wir in allem, auch durchaus Konkretem immer auch das Symbolische zu erkennen, als eine Manifestation von etwas viel Grösserem.
Oftmals geschieht in einer Analyse das Entscheidende, wenn die offensichtlichen und bekannten Tatsachen, an denen jemand leidet, eines Tages als Symbole verstanden werden, das heisst wenn die Jungsche Psychologie angewandt wird. Denn als Symbole verstanden, können Symptome auf etwas Dahinterliegendes und auf eine sinnvermittelnde Dimension hinweisen. Weil wir aber die Bedeutung von Symbolen oft nicht so leicht begreifen können, hat C.G. Jung vorgeschlagen, sie so lange mit weiteren unbewussten Manifestationen anzureichern, sie zu umkreisen, bis sich ein individuell fassbarer Sinn aus dem Symbol selbst herauskristallisiert.
So gesehen sind auch die Referate des Psychologischen Clubs als ein ständiges Umkreisen der Geheimnisse der Seele zu verstehen, oder eben als Anwendungen der Jungschen Psychologie.
Inácio Cunha, Jungscher Analytiker in Brasilien, hält seinen Vortrag auf Englisch. Seine ethnologische Forschung macht uns bekannt mit den Tupinambá, einem der indigenen Stämme Brasiliens. Auf den ersten Blick mag uns ihr kriegerisches Wesen befremden, und ganz bestimmt der von ihnen praktizierte Kannibalismus. Dank des symbolischen Verständnisses, der Optik der Jungschen Psychologie, gelangt Inácio Cunha zur faszinierenden Hypothese, dass sowohl Krieg als auch die kannibalistischen Rituale im Grunde der Herstellung eines Lebens im Jenseits dienen. Diese gleicht der Idee eines «Ewigen Leibes», wie wir manchmal in Anlehnung an den alchemistischen Prozess sagen, und ein Synonym des Philosophischen Steines ist beziehungsweise die oft lebenslange Auseinandersetzung mit dem Selbst bezeichnet.
Angela Nold-Graf, Psychologie- und Psychotherapie-Historikerin, spricht über C.G. Jungs Vorlesungen an der ETH; sie stellt aber hier nicht den psychologischen Inhalt in den Mittelpunkt, sondern Jungs persönliche Auseinandersetzungen mit dem konkreten Umfeld in den Jahren 1933-1942.
Martin Huber ist Mathematiker und erläutert zuerst die Geschichte der Symmetrie anhand der Architektur der Antike und der Renaissance. Der Begriff der Symmetrie wurde später im Rahmen der Mathematik und der Naturwissenschaften weiterentwickelt, wovon der Referent einige Beispiele geben wird, um dann Symmetrien in der Kunst des 20. Jahrhunderts, insbesondere bei den Avantgardisten der 30er-Jahre, wiederzufinden. Symmetrie als Ausdruck von Harmonie von Proportionen kann in der anschliessenden Diskussion weiter vertieft werden.
Jody Schlatter ist von den Bildern der kanadischen Malerin Emily Carr berührt und begeistert. Sie stellt uns zuerst die Künstlerin vor und zeichnet deren Weg einer religiösen Suche nach. Sie vertieft sich dann in die Symbolik der Bilder von Emily Carr und zeigt, wie sich darin Geist und Seele der wilden Westküste Kanadas verbinden.
Ruedi Högger bringt als Gast Yulia Lymar mit. Die beiden lesen und besprechen Texte und Gedichte von Wasyl Symonenko, einem Angehörigen der ukrainischen Widerstandsbewegung in den 1960er-Jahren. Die Präsentation thematisiert nicht nur die damalige und die gegenwärtige politische Situation in der Ukraine, sondern versucht auch, Symonenkos Motiv der «heiligen Hochzeit» in unserer eigenen heutigen Wirklichkeit zu verstehen.
Ursula Stüssi hat drei Erzählungen des mittelalterlichen Dichters Robert de Boron untersucht. In diesen drei literarischen Werken sind mythologische Berichte und Motive verwoben, deren tiefe Bedeutung sie uns zugänglich macht, indem auch sie das Wissen der Jungschen Psychologie anwendet. Robert de Boron hat anscheinend Triebkräfte beschrieben, die vom Unbewussten initiiert worden sind, aber ins damalige Gottesbild noch nicht aufgenommen werden konnten.
Wir glauben, dass bei den Präsentationen im Psychologischen Club zum Interesse der einzelnen Vortragenden an einem bestimmten Thema noch das symbolische Verstehen dazukommt, so dass der Geist des Unbewussten über das blosse Bild oder Ereignis hinausgreift und uns als Zuhörer belebt.
Nun wird die Jungsche Psychologie manchmal auch ganz unbewusst angewandt, sodass von symbolischem Verstehen eigentlich kaum die Rede sein kann. Aber Menschen, die in unermüdlicher Hingabe das gestalten, was «von innen her sein muss», wenden im Grunde ebenfalls etwas an, das Jung sehr wichtig gewesen ist, nämlich sie geben einem schöpferischen Drang in ihrem Leben Zeit und Raum. Ein solches Beispiel ist Rosa Gerber, die Stickerin des Bildteppichs «Bergpredigt», der im Vortragsraum des Psychologischen Clubs aufgehängt ist. Die junge Frau verspürte einen Drang, aus sich selbst, «ganz aus dem Eigenen eine schöne grosse Arbeit zu machen». Jahrelang hat sie am Teppich gestickt und ihn innerlich mit sich herumgetragen, denn es war, «wie wenn er ihr ganzes Inwendiges befehlen würde».
Dr. Ernst Laur, seinerzeit Leiter des Schweizerischen Heimatwerkes, hat dankenswerterweise aufgeschrieben, was ihm Rosa Gerber über die Entstehung des «Bergpredigt»-Teppichs erzählt hat. Wir halten dieses Dokument für so berührend, dass wir es hier in der ganzen Länge abdrucken wollen. Zum Artikel von Dr. E. Lauer
Juli 2024, Irene Gerber