Es war ein besonderer Anlass. Immer mehr Menschen strömten in den Vortragsraum, und wir wussten kaum mehr, wo wir noch einen Stuhl hinstellen konnten. Menschen aus der Schweiz, aus Deutschland, Amerika, Kanada, China, Japan. Sie alle haben sich hier zusammen gefunden zu Ehren der Freundschaft zweier überragender Männer, der Freundschaft von C.G. Jung und Richard Wilhelm. So begann der Clubabend, an welchem Bettina Wilhelm den Film zeigte, den sie über ihren Grossvater gedreht hat. Neunzig Minuten später war es ganz still im Saal. Der Film, vorgeführt an dem Ort, wo C.G. Jung während Jahrzehnten gewirkt hatte und wo er, wie Marie-Louise von Franz in ihren Erinnerungen an den Psychologischen Club erzählte, jeden Vortrag besucht hat, es sei denn, dass er krank war oder auf einer Reise. Jung tat das, so Marie-Louise wörtlich, „obwohl er so überlastet war und manchmal meineidig fluchte, dass er noch in den Club gehen musste.“
Richard Wilhelm (1873 – 1930)
Einige Wochen später. Wieder ein Film, und wieder berichtet einer von seinem Grossvater. Dieses Mal war es Dieter Baumann (1927-2020), der anlässlich des Films Face to Face with C.G. Jung in eindrücklicher Weise von einigen Erlebnissen mit seinem Grossvater C.G. Jung erzählte. Geplant war, dass er den Film gelegentlich unterbricht, um da oder dort spontan dazu Stellung zu nehmen. Doch nichts dergleichen geschah. Wie er auch nach gut zwanzig Minuten den Film immer noch nicht unterbrochen hatte, ging ich zu ihm, um ihn zu fragen, ob er nicht etwas dazu sagen wolle. Nein, meinte er, der Film sagt ja alles! Er war so berührt von diesem Film, den er sicher schon unzählige Male gesehen hatte, dass er zunächst gar nichts dazu sagen wollte. Dann aber begann er zu erzählen und er tat das in so lebendiger Weise, dass man fast meinen könnte, Jung hätte noch einmal den von ihm gegründeten Club besucht.
Beide Anlässe machten die Faszination deutlich, welche die Räume des Psychologischen Clubs auch heute noch ausstrahlen. Dass wir unsere Veranstaltungen im neu renovierten Clubhaus durchführen dürfen, ist ein seltenes und kostbares Privileg. Es ist der Ort, an dem Richard Wilhelm zum ersten Mal im Westen über die Weisheit des Ostens gesprochen hat; der Ort auch, an dem C.G. Jung seine neuen Arbeiten den Clubmitgliedern vorgetragen hat, weil er sehen wollte, ob seine Gedankengänge verstanden werden. Oft scheint es mir, dass Menschen aus dem Ausland den genius loci des Clubhauses besser spüren als die Clubmitglieder, die an allen Anlässen im Club teilnehmen können.
Ein wichtiges Anliegen des Psychologischen Clubs ist es, durch die Besinnung auf die objektive Psyche, das heisst auf die Botschaften des Unbewussten einen Geist hervor zu bringen, der Zukunft schafft. Mir persönlich wird das Bild vom Rhizom, das C.G. Jung am Anfang seiner Erinnerungen erwähnt, immer wichtiger. Es ist das Bild vom unterirdischen Wurzelgeflecht, aus dem die Pflanzen hervorkommen. Das, was über dem Boden sichtbar wird, hält nur einen Sommer. Dann verwelkt es – eine ephemere Erscheinung. Das eigentliche Leben steckt im Rhizom. Unser Leben ist kurz, siebzig, achtzig, vielleicht gar neunzig Jahre. Aber dann kehrt es notwendig zurück in den ewigen Strom von Werden und Vergehen. Glücklich, wer wie C.G. Jung sagen kann, „Ich habe nie das Gefühl verloren für etwas, das unter dem ewigen Wechsel lebt und dauert. Was man sieht, ist die Blüte, und die vergeht. Das Rhizom dauert.“1 Mit den Anlässen im Club möchten wir diesem unterirdischen Strom des Geschehens Beachtung schenken, um in dieser Weise dem schöpferischen Geist des Unbewussten zu dienen.