Nach meiner Meinung ist das Unbewusste als die Totalität aller derjenigen psychischen Phänomene aufzufassen, denen die Qualität der Bewusstheit mangelt… Daher enthält das Unbewusste alle verlorenen Erinnerungen, ausserdem auch alle diejenigen Inhalte, welche noch zu schwach sind, um bewusstwerden zu können… Zu diesen Inhalten kommen auch alle mehr oder weniger absichtlichen Verdrängungen peinlicher Vorstellungen und Eindrücke. Die Summe aller dieser Inhalte bezeichne ich als das persönliche Unbewusste. Darüber hinaus aber finden wir im Unbewussten auch die nicht individuell erworbenen, sondern vererbten Eigenschaften, also die Instinkte… Dazu kommen die a priori vorhandenen, das heisst mitgeborenen Formen der Anschauung, der Intuition, [und] die Archetypen von Wahrnehmung und Erfassung, welche eine unvermeidliche und a priori determinierende Bedingung aller psychischen Prozesse sind. Wie die Instinkte den Menschen zu einer spezifisch menschlichen Lebensführung veranlassen, so zwingen die Archetypen die Wahrnehmung und Anschauung zu spezifisch menschlichen Bildungen. Die Instinkte und die Archetypen der Anschauung bilden das kollektive Unbewusste. Ich nenne dieses Unbewusste kollektiv, weil es im Gegensatz zu dem oben definierten Unbewussten nicht individuelle, das heisst mehr oder weniger einmalige Inhalte hat, sondern allgemein und gleichmässig verbreitete.
(C.G. Jung, Gesammelte Werke 8 / Instinkt und Unbewusstes / 1919, 1948 / § 270 / kursiv im Original)
Dieses so definierte Unbewusste beschreibt einen ungemein schwankenden Tatbestand: alles, was ich weiss, an das ich aber momentan nicht denke; alles, was mir einmal bewusst war, jetzt aber vergessen ist; alles, was von meinen Sinnen wahrgenommen, aber von meinem Bewusstsein nicht beachtet wird; alles, was ich absichts- und aufmerksamkeitslos, das heisst unbewusst fühle, denke, erinnere, will und tue; alles Zukünftige, das sich in mir vorbereitet und später erst zum Bewusstsein kommen wird; all das ist Inhalt des Unbewussten. …Zum Unbewussten müssen wir aber auch (…) die bewusstseinsunfähigen, psychoiden [d.h. körperlichen] Funktionen rechnen, von deren Existenz wir nur indirekt Kunde habe.
(C.G. Jung, Gesammelte Werke 8 / Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen / 1946, 1954 / § 382)
So kommen wir zu dem paradoxen Schluss, dass es keinen Bewusstseinsinhalt gibt, der nicht in einer anderen Hinsicht unbewusst wäre. Vielleicht gibt es auch kein unbewusstes Psychisches, das nicht zugleich bewusst ist.