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Die Bergpredigt – Teppich von Rosa Gerber
 

ERNST LAUR, Heimatwerk: Blätter für Volkskunst und Handwerk, Dezember 1944, Zürich.
Signatur: Psychologischer Club, B 1383.

Es geschehen noch wundersame Dinge in unserem Land. Kam da unlängst eine einfache blonde Frau in meine Stube mich zu fragen, ob sie mir einen Bildteppich, den sie in jahrelanger Arbeit gestickt habe, zeigen dürfe. Wer das Heimatwerk leitet, ist vom Schicksal dazu bestimmt, unter anderem auch gestickte Bilder anschauen zu müssen. Eben war ein Soldat, ein Festungswächter vom St. Gotthard, dagewesen, der in den einsamen Stunden seiner Freizeit den Trompeter von Säckingen, wie er durch den Wald reitend sein Lied zum minniglichen Schloss emporschickt, alles auf dunkel-blauem Sammetgrund gestickt hatte. Zum Weinen schön! Und nun steht die Frau vor mir, scheu und etwas linkisch, mit sonderbar schwimmenden blauen Augen und hält ihr Paket unter dem Arm. Ihr Bild stelle die Berg-predigt dar und sie habe es eigentlich für sich selbst gestickt. Doch ihr Mann sei Handlanger und müsse täglich in Schmutz und nassem Boden schaffen; das brauche Schuhe, Hosen, Strümpfe und jetzt seien auch zwei kleine Kinder da. Darum habe sie sich entschlossen, ihren Teppich zu verkaufen. In ihren Worten klang ein ungewohnter Ton. So bat ich sie, ihr Bündeli zu öffnen, hoffend, dass diesmal wenigstens etwas wahrhaft Schönes zum Vorschein komme.

Und fürwahr entrollte sich vor meinen Augen ein Bild voll satter Farbenpracht, eine vom dunkelblauen Meer durch Wald und Berge bis zum Himmel aufsteigende Landschaft, angefüllt von einem bunten Gewimmel aufwärts ziehender Menschen, zuoberst auf goldener Kuppe, wo die Welt und die Ewigkeit sich berühren, sitzt Jesus und erläutert die 10 Gebote, die auf übergroßen grauen Tafeln zu seinen Seiten aufgerichtet stehen, derweilen Petrus mit zwei Engeln die Pforte des Paradieses hütet und über ihm Sonne und Mond und die Sinnbilder des Tierkreises ihren Bogen ziehen. Eine Schilderei von Natur, menschlichem Leben und tiefem geistigen Sinn, wie man sie in frömmeren Zeiten in Klöstern geschaffen hat. Vor mir aber steht die stille Frau des Handlangers und sagt, dass das Bild das Werk ihrer Hände sei, weil auch sie im Leben etwas ganz Schönes haben wollte.

Ich bat die Unbekannte, mir zu erzählen: von ihrem Leben, von ihrer Arbeit und vom Sinn ihres Bildwerkes. Willig tat sie es, derweilen mein Stift leise über das weiße Blatt glitt und ihren Worten folgte, die ich hier wiedergebe.

«Ich war ein armes Kind; meine Mutter war Heimarbeiterin und, weil sie wollte, dass ich es einmal besser haben möchte, gab sie mich einem Maschinensticker in die Lehre. Da musste ich jahraus jahrein mit dem Hebel der Maschine toten Formen nachfahren, derweilen die vom Motor getriebene Nadel neben mir wie wild in den Stoff pickte. Wenn ich dort hätte verbleiben müssen, wäre ich längst gestorben. Doch am Abend durfte ich für ein Haus, das für kunstverständige Frauen schöne Handarbeiten anfertigt, Botengänge tun und wagte schließlich die Bitte, ob auch ich mich am einen oder anderen Stück versuchen dürfte. Da es mir gut gelang, nahm man mich als heimarbeitende Stickerin an. Ich blieb es bis zum heutigen Tag. Hunderte schöner Arbeiten habe ich ausgeführt, und habe an ihnen gelernt; doch immer waren es andere, die sie erfunden und gezeichnet hatten. Wenn ich aber vom Morgen bis Abend am Rahmen saß und stichelte, spürte ich, wie es in mir trieb und drängte, einmal aus mir selber, ganz aus dem Eigenen, eine schöne große Arbeit zu machen, die nachher mir gehören sollte und keinem Fremden.

So nahm ich eines Tages die große ‹Blätztrucke› [Stoffschachtel] aus dem Kasten und legte Stück für Stück vor mich auf den Stubenboden. Neuen Stoff zu kaufen hätte ich damals nicht vermocht. Rote, gelbe, blaue, grüne Schnäfel [Stoffabschnitte] waren es, kunterbunt durcheinander. Doch wie ich sie so betrachtete, sah ich auf einmal ein Kirchenfenster in seinem ersten Anfang, und schon hatte es mich gepackt. Stundenlang versuchte ich, die Farbstücke schön zusammenzufügen, störende herauszunehmen, sich anziehende zusammenzubringen. Es war wie ein Fieber und als es schließlich Ruhe gab in dem Farbenspiel, war ich vor Glück und Bedrängnis so er-schöpft, dass ich mich kaum mehr aufrecht halten konnte. Nach einer Weile trat ich wieder vor mein ‹Kirchenfenster›, das wie ein leuchtender Teppich immer noch auf dem Stubenboden lag. Da sah ich, wie die bunten Flecken anfingen zusammenzuwachsen zu einer großen Landschaft. Unten das dunkle Blaue, das war das Meer, das Braune die Äcker und Wege, das Grün die Wiesen und Wälder und das helle Goldene in der Höhe, das musste der sonnige Himmel sein und der Anfang des Paradieses. Und schon fiel mir die Bergpredigt ein und sah ich den Heiland im Glanze sitzen und sah die Menschen, wie sie vom Meere her durch das weite Land hinaufzogen bis auf den obersten Berg, um sich zu seinen Füßen zu setzen und der Verkündung der Gebote zu lauschen.

Es sind etliche Jahre, her, seit ich solchermaßen erleuchtet wurde, und bald war das Bild wieder erloschen. Aber ich wusste, was ich zu tun hatte. So begann ich den Teppich zusammenzunähen, – einhundertzweiundvierzig Stoffresten sind es gewesen – bis ich sah, dass er die ganze Welt, vom Meere bis in den Himmel tragen konnte. Und dann fing ich mit dem Sticken an, an allen vier Ecken zugleich und auch mitten in den Feldern. Denn so etwas kann man nicht machen wie einen Strickstrumpf, wo man oben beginnt und Gang um Gang vorwärtsmäschlet [vorwärtsstrickt], bis man von selbst bei der Zehenspitze anlangt und der Strumpf einem fertig aus der Hand fällt.

Ich kann es schwer beschreiben! Aber Jahre lang habe ich den Teppich mit mir herumgetragen, es war, wie wenn er mein ganzes Inwendiges befehle. Doch in die Hände nehmen durfte ich ihn nur, wenn die verdiente Arbeit getan und das tägliche Brot im Korbe lag. Aber auch dann konnte ich nur schaffen, wenn ich in der Klarheit war. Da kann man nicht einfach sagen: jetzt sticke ich noch zwei Stunden an der Bergpredigt! Was wollte ich mit der Nadel anfangen, wenn ich ‹es› nicht sah, wenn ich es nicht mit den inwendigen Augen erfasst hatte. Denn zeichnen und malen kann ich nicht, ich musste alles aus der Eingebung und ohne solche Hilfen fertigbringen.

Aber am Morgen, wenn ich noch mit geschlossenen Augen im Bette lag, konnte ich es oft erfassen. Da sah ich bald diesen, bald jenen Teil. Manchmal waren es ein paar Menschen, die gingen, ich sah ihre Bewegungen, sah ihre Kleider, sah die Farben. Oder ich sah einen Apostel, der unterwegs Brot austeilte. Oder es fiel mir ein, dass eine Frau Durst hatte und ich sah die Quelle unter dem Palmenbaum, zu der sie sich neigte. Oder ich erblick-te die Krieger, die vom Meere herkamen, und weil es für sie Abend war, und sie nicht mehr bis zum Gipfel des Berges hätten gehen können, sah ich die Zelte, in denen sie die Nacht zubringen konnten. Und wenn ich dann aufstand, um noch in der Frühe das Geschaute zu beginnen, so konnte es sein, dass Alles schon erloschen war, bis ich auf meinem Stühlchen saß. Nur wenn es in mir blieb ‹wie ein Duft›, konnte ich es behalten und es mir wieder vor die Augen stellen, derweilen ich die Nadel führte. Und man muss lange sehend sein, denn wie viele Stiche braucht es für ein einziges Mannli!

Auch die Farben sind mir inwendig eingegeben worden oder dann sah ich sie ungesucht in der Natur. Wenn wir am Sonntag durch die Matten gingen – ich war scheinbar bei den andern und mein Mund redete dies und das –, wurden meine Augen plötzlich angezogen von einem Farbenspiel, das ich nicht loswerden konnte. Aber die Farben, die man in sich hat und die Farben in den Garnhandlungen sind meistens nicht dieselben. Ich glaube, dass es in mir hunderterlei verschiedene Blau gibt. Aber wie sollte ich sie beschreiben? Wie oft bin ich wegen eines einzigen Fadens in ein Geschäft gegangen und habe gesucht und gesucht und nicht gefunden und wenn ich wieder ging, spürte ich, dass das nette Fräulein dachte, ich sei nicht recht im Kopf.

Aber in meiner Stube und in den guten Stunden war ich glücklich, so glücklich wie ich es keinem Menschen sagen kann. Da saß ich in meinem Winkel, hatte die Welt und alles was rings herum rumorte vergessen. Wenn ich in der Klarheit war, konnte nichts mich stören und nichts mich von mir selber wegreissen. Aber wenn es dann erlosch, war ich so leer und müde, dass ich kaum mehr zu den Hausgeschäften fähig war.

Schaut man den Teppich heute an, ist von den ‹Blätzen› [Stoffstücken] nicht mehr viel zu sehen. Ich habe sie im Laufe der Zeit so sehr mit andern Fäden durchwirkt, dass sie nur noch durchschimmern wie farbige Schatten. Es gab auch manches, das ich zuerst falsch machte. Ich wusste nicht warum, aber ich empfand es. Da musste ich dann oft stundenlang die ungute Stelle anschauen, bis die Augen und der Kopf mir weh taten – und fand doch nicht, wo es fehle. Bis es mir, vielleicht beim Betten oder Suppenkochen, plötzlich von innen aufstieg. So halte ich die Gestalten des Tierkreises – ich habe sie in einem Kalender gefunden – zuerst in ihren natürlichen Farben gestickt. Es ging lange, bis ich wusste, dass sie damit, obwohl sie im Himmelsbogen schwebten, irdische Tiere blieben. Da trennte ich sie auf und gab allen lichte blaue Körper; jetzt stehen sie richtig in der Ewigkeit, wo ihre Wohnung ist.

Eines Tages spürte ich, dass die Arbeit fertig sei. Alles war darin, was ich wusste, und es fiel mir nichts mehr ein. Der Teppich hörte auf, mich zu regieren. Er hing dort, und ich war da. Von dieser Stunde an konnte ich ihn auch andern Leuten zeigen, während ich ihn bis dahin vor fremden Augen ängstlich verborgen hielt. Und jetzt kann ich ihn sogar verkaufen, meinem Mann zuliebe und den Kindern. Vielleicht deshalb, weil ich jetzt für meine Kleinen mit farbigen Blätzen Wandbilder zusammennähe und ihnen Märchengeschichten darauf sticke. Das tut nicht mehr so weh; es ist eine heitere Freude. Wenn man Frau und Mutter wird, ändert sich von selber manches in der Seele; die Bergpredigt habe ich gestickt, als ich noch allein war.»

So hat mir die Frau erzählt in der dämmernden Stube. Ich habe gelauscht und dabei empfunden, dass ich wie durch ein Fenster in das Geheimnis des schöpferischen Menschenwesens habe blicken dürfen.

Auf die Weihnachtszeit hin hängt die «Bergpredigt» im Heimethuus, damit alle, die diesen Bericht lesen, sie sehen können; vielleicht auch der Eine, der sie zur Bereicherung seines Lebens nach Hause tragen wird. E. L.

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